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Wir brauchen eine gemeinsame Vision

Digitalisierungs-Expertin Prof. Dr. Andréa Belliger war zu Gast an der Paneldiskussion von Well zur Zukunft des Gesundheitswesens.

Wie sie Well einschätzt und warum sie eine Lanze für das EPD bricht, erfährst du im Interview.

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Prof. Dr. Andréa Belliger, Wissenschafterin, Digitalisierungs-Expertin, Autorin und Verwaltungsrätin
Der grosse Sprung bei Well ist nicht die App selbst. Das Spannende ist, dass sich im Hintergrund Akteure zu einem Ökosystem zusammentun, die sich zuvor spinnefeind waren.
Prof. Dr. Andréa Belliger
Wissenschafterin, Digitalisierungs-Expertin, Autorin und Verwaltungsrätin

Interview mit Andréa Belliger

Gleich vorneweg: Verwenden Sie die Well-App?

Klar. Ich nutze gefühlt 100’000 Gesundheits-Apps – und auch das EPD.

Well hat am 4. Mai das nationale Rollout der Well-App verkündet. Wie beurteilen Sie die App?

In vielen Lebensbereichen ist Digitalisierung Standard. 2022 müssen wir aus Patientenperspektive erwarten können, dass auch der Gesundheitsbereich digital ist. Der grosse Sprung bei Well ist nicht die App selbst. Das Spannende ist, dass sich im Hintergrund Akteure zusammentun, die vorher nicht miteinander gesprochen haben. Stakeholder, die sich spinnefeind waren, reden nun miteinander, vernetzen sich. Well ist weit mehr als eine Plattform, es ist ein Ökosystem.

Well will die Nutzerinnen und Nutzer ermächtigen, ihre Gesundheit selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Was halten Sie von diesem Ansatz?

In Sachen Gesundheitskompetenz schneidet die Schweiz im internationalen Vergleich jeweils sehr schlecht ab. Die Gesundheitsstrategie des Bundesrats 2030 hat die Förderung der Gesundheitskompetenz darum als eines der Handlungsfelder definiert. Ich bin überzeugt, wenn ein Bedürfnis da ist, können die Bürgerinnen und Bürger erreicht werden. Dafür brauchen sie jedoch Daten und Informationen, die für sie lesbar und verständlich sind.

Wie könnte das Gesundheitswesen von der Digitalisierung profitieren?

Ich spreche eigentlich lieber von digitaler Transformation als nur von Digitalisierung. Digitale Transformation als ein sehr breit gefasster Veränderungsprozess, der weit über den Einsatz von Technologie hinausgeht, kann die Qualität des Gesundheitswesens auf verschiedenen Ebenen verbessern:

  • Der Zugang zu und die Verfügbarkeit von Gesundheitsdienstleistungen wird gewährleistet.
  • Die Versorgungs- und Care-Prozesse werden besser.
  • Die Verwaltungseffizienz nimmt zu.
  • Die soziale Gerechtigkeit wird gestärkt.
  • Und am wichtigsten: die Wirkung von Behandlungen, der so genannte Outcome, kann verbessert werden.

Das EPD wird derzeit in den Medien scharf kritisiert. Zu recht?

Ich finde es bedauerlich, dass die Medien alle in dieselbe Kerbe schlagen. Das EPD wurde nicht als agiler Prozess aufgesetzt, das stimmt. Aber man muss das differenziert betrachten und nicht das ganze Projekt verurteilen. Bisher wurden CHF 30 Mio. in das EPD investiert. Das ist ein halber Kilometer Autobahn. Nicht gerade viel. Man muss nun nicht auf der grünen Wiese neu anfangen, aber man muss sich bewusst machen, dass Unterfangen dieses Ausmasses ein iteratives Vorgehen und eine solide Finanzierung erfordern.

Warum sind wir Ihrer Meinung nach noch nicht weiter mit der Digitalisierung?

Wir haben keine gemeinsame Vision. Wo wollen wir hin mit der digitalen Transformation? Und es fehlt an Leadership: Menschen, die diese Transformation verkörpern und vorwärtsziehen. Bisher hat sich kein Politiker als das Gesicht dieses Wandels hervorgetan. Aber auch die Bevölkerung muss mitziehen. Als Nation brauchen wir eine gewisse Leidenschaft für Veränderung. Daran mangelt es uns in der Schweiz. Wir sind ein bisschen wie die Maden im Speck und verspüren wenig Druck. Darum lassen wir uns ungern auf Veränderungen ein.