E-Health: nicht top-down oder bottom-up, sondern sowohl als auch

E-Health: nicht top-down oder bottom-up, sondern sowohl als auch

Prof. Dr. Sven Streit hat eine mehrperspektivische Sicht auf das Gesundheitswesen: Er ist Wissenschafter und Hausarzt. Was sind seine Erwartungen an die Digitalisierung im Gesundheitswesen, in welchem E-Health-Bereich forscht er und wie schätzt er Well ein?

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Prof. Dr. Sven Streit Leiter Interprofessionelle Grundversorgung am Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) der Universität Bern und Hausarzt in eigener Praxis
Die Gesellschaft muss abgeholt werden. Es geht nicht nur darum, was technisch machbar ist, sondern auch darum, was sinnvoll ist.
Prof. Dr. Sven Streit
Leiter Interprofessionelle Grundversorgung am Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) der Universität Bern und Hausarzt in eigener Praxis

Interview mit Sven Streit

Ihr Forschungsschwerpunkt sind ältere Menschen mit chronischen Krankheiten. Woran forschen Sie konkret?

Im Rahmen der OPTICA-Studie befasse ich mich mit der Medikamentenoptimierung bei älteren Patientinnen und Patienten mit Polypharmazie, d. h. von Menschen, die in der Regel fünf oder mehr Medikamente täglich einnehmen. Die Studie geht der Kernfrage nach: Wie können Medikamente älterer Menschen optimiert werden, sodass sie weder zu viel noch zu wenig zu sich nehmen.

Mehr zur Studie unten in diesem Beitrag.

Welchen Nutzen soll die Studie bringen?

Wir wollen die Komplexität für ältere Menschen reduzieren und Fehler bei der Medikation vermeiden. Dafür gibt es von Experten erstellte Listen ungeeigneter Medikamente. Aber Listen sind lang und schwer auswendig zu lernen, und es gibt zu komplexe Abhängigkeiten im Stil von «wenn das eintrifft, dann das machen». Wenn wir eine Software mit Diagnosen, Medikamenten und Werten füttern, vereinfacht das uns Hausärztinnen und Hausärzten diese Interpretationsaufgabe für unsere Patientinnen und Patienten: Das System zeigt automatisch auf, wenn zum Beispiel ein Medikament vergessen wurde.

Liegen bereits Ergebnisse vor?

Unsere Studie wird diese Tage gerade fertig, aber wir können bereits sagen, dass es einige Empfehlungen der Software gab und auch einige Anpassungen bei Patientinnen und Patienten vorgenommen wurden. Obwohl die Software vieles vereinfachte, meldeten uns die Hausärztinnen und Hausärtze, dass die Medikamentenoptimierung immer noch viel Zeit braucht. Wir werden aber auch analysieren, ob z.B. weniger Stürze eine Folge der Intervention waren und wie es mit Kosten-Nutzen aussehen wird.

Sie sind nicht nur Wissenschafter, sondern auch Hausarzt. Was wünschen Sie sich von der digitalen Transformation im Gesundheitswesen?

Als Arzt möchte ich möglichst viel Zeit in die Patienten investieren, nicht in den Ausbau der IT-Infrastruktur. Ich wünsche mir, dass die Digitalisierung in diese Richtung geht: einfacher, transparenter und sicherer. Doch das setzt entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen voraus.

Daten sollen nicht wiederholt und von Hand in Systeme eingegeben werden müssen. Denn diese Ressourcen brauchen wir beim Patienten. Ich wünsche mir darum Top-down-Lösungen, die ganzheitlich gedacht werden. Beispielsweise braucht es Plattformen zum echten Datenaustausch, statt nur einen Austausch von E-Mails mit PDF-Dateien.

Im internationalen Vergleich sind Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte in der Nutzung von E-Health weniger fortgeschritten. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Zwei Dinge: Die ambulante Grundversorgung in der Schweiz hat ein Nachwuchsproblem. Der Anteil an Hausärztinnen und Hausärzten unter 45 Jahren ist gleich gross wie der Anteil der noch berufstätigen über 65-Jährigen. Die jüngeren zeigen sehr wohl einen starken Digitalisierungseffort, wie sich gerade bei Praxisübernahmen zeigt.

Und zweitens: Mit der hausärztlichen Bereitschaft zur Digitalisierung allein ist es nicht getan. Es fehlt oft an digitalen Schnittstellen für alle Systeme. Wir Hausärztinnen und Hausärzte stossen im digitalen Vernetzungsprozess überall an infrastrukturtechnische Grenzen.

Gemeinsam mit Ihrer Frau leiten Sie eine Hausarztpraxis in Konolfingen. Wie halten Sie es da mit der Digitalisierung?

Meine Frau und ich sind sehr digitalaffin und nutzen entsprechende Lösungen in unserer Praxis. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wichtige medizinische Informationen dadurch schneller auffindbar sind. Dank aufwendig erstellter und gepflegter Diagnoselisten leisten wir unseren Beitrag dazu, dass unsere Kolleginnen und Kollegen im Spital sowie die ambulant tätigen Spezialisten alle Informationen zur Hand haben und man nicht immer wieder von vorne anfangen oder Dinge doppelt machen muss. Die Zusammenarbeit mit anderen ist für eine Hausarztpraxis essenziell. Manche Prozesse funktionieren gut, wie etwa die Zuweisung an Spezialisten über eine Plattform. Nicht gut funktioniert beispielsweise die Schnittstelle zur Apotheke oder Spitex, wo noch viel per E-Mail läuft und Medikamentenpläne auf unterschiedliche Systeme angepasst werden müssen. Da wünschte ich mir verbindliche Standards, die uns die interprofessionelle Arbeit erleichtern.

Wie beurteilen Sie Well in diesem Kontext?

Bestrebungen, Systeme zu vernetzen, begrüsse ich sehr. Es braucht beides: Insellösungen und vernetzte Systeme. Insellösungen können etwas Intelligentes hervorbringen, von dem wir alle profitieren. Am Ende muss die Lösung aber natürlich integriert werden. Jede Innovation muss anschlussfähig sein. Wichtig ist auch das User Involvement. Die Gesellschaft muss abgeholt werden. Es geht nicht nur darum, was technisch machbar ist, sondern auch darum, was sinnvoll ist.

OPTICA-Studie

Die OPTICA-Studie wurde vom Schweizerischen Nationalfonds SNF im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramm NFP 74 finanziert. Die klinische Studie hat zum Ziel, die bestehende Medikation bei älteren multimorbiden Patientinnen und Patienten mit Polypharmazie zu optimieren. Sie untersucht zudem, welche Auswirkungen die Medikamentenoptimierung bei dieser Bevölkerungsgruppe hat auf: Gesundheitszustand, Lebensqualität und Inanspruchnahme von Leistungen im Gesundheitssystem. Dabei wird eine gewöhnliche Behandlung ohne zusätzliche Medikamentenprüfung mit einer Behandlung mit zusätzlichem Einbezug eines softwarebasierten Hilfsmittels verglichen. Die Empfehlungen zur medikamentösen Optimierung, die vom Programm generiert werden, dienen der gemeinsamen Entscheidungsfindung zwischen Ärztin oder Arzt mit Patientin oder Patient.

Mehr zur OPTICA-Studie unter der Leitung von Sven Streit.